"Das Licht von Harran"
Prolog
Die mächtige Kreatur lag zu seinen Füßen und rang nach Luft. Ihre vier Beine waren von dem massigen Körper weggestreckt, die Flanken zitterten. Ein Blick in ihre Augen verriet ihm, dass er ihren Willen endgültig gebrochen hatte.
Auch Schatten besaßen einen eigenen Willen, doch davon wussten die wenigsten. Dieses geheime Wissen war nur Menschen vorbehalten, die zu Höherem bestimmt waren – und den Göttern selbst.
Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, als er sich zu der Kreatur hinabbeugte. Sie rührte sich nicht, starrte ihn nur mit aufgerissenen Augen an. Wartete ab, was als nächstes mit ihr geschehen würde. Ihre Angst nährte seine Kräfte, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurden.
»Braves Biest. So ist es gut.« Er drückte die Handflächen gegen den mittleren der drei Köpfe und ließ seine Energie in die Kreatur hineinfließen. Diese begann unter ihm loszubrüllen und versuchte sich aufzubäumen, doch er rang sie mit der Kraft seiner Gedanken nieder und zwang sie, in einer Starre der Hilflosigkeit zu verharren.
Er war der Stärkere von ihnen, das musste ihr ein für allemal klar werden. Er hatte sie bezwungen und war von jetzt an ihr Gebieter!
Heiß jagte die Energie durch seinen Körper, floss durch seine Arme hindurch und übertrug sich unaufhaltsam auf die Kreatur. Das Innere ihres dunklen Leibes begann zu pulsieren, und es mischten sich tanzende Flammen unter das Schwarz. Ihr Brüllen verwandelte sich in ein hohes Kreischen, die Muskeln unter ihrem Fell verkrampften sich. Sie versuchte, mit ihren Beinen zu strampeln, mit ihren drei Köpfen nach ihm zu schnappen, doch seine Macht hielt sie weiterhin gelähmt.
Auch er brüllte, als er der Kreatur einen letzten harten Energiestoß versetzte. Sein Werk war vollendet, er löste seine Hände von dem massigen Kopf und trat einige Schritte zurück.
Eine Zeit lang blieb die Kreatur reglos am Boden liegen. Dann jedoch grollte und schnaubte sie, erhob sich auf ihre Beine, senkte den Kopf und sah ihn mit ihren Glutaugen ergeben an.
Er nickte und befahl in scharfem Ton: »Und nun, Kreatur des Theos, gehe und erledige das, wozu ich dich erschaffen habe!«
Mit einem Schrei warf sich der neue Sklave herum und jagte davon.
Ein Lachen brach aus dem Bezwinger des Schattens hervor, als er aus der düsteren Sphäre heraustrat und sein Blick über das zerklüftete Gebirge wanderte, das vom Vollmond hell erleuchtet wurde. »Nicht mehr lange, und das Mädchen wird beseitigt.«
Im Innern des Berges hinter ihm begann es unweigerlich zu grollen. Dann folgte ein zorniges Beben, das einen Teil der Einöde erschütterte. Steine zerplatzten und fielen in die Tiefe, Staubwolken erfüllten die Luft.
Sein Lachen wurde lauter, als er sich umdrehte und in Richtung Berg brüllte: »Und du, mein Gefangener, trägst selbst die Schuld daran!«
"Bosselstein - Ein Flüstern aus der Vergangenheit"
Fahles
Mondlicht erhellte das Land.
Es
war eine stürmische Nacht, in der der Wind wie ein Heer verlorener
Seelen um die alten Mauern der Burgruine heulte und an den Wipfeln
der Bäume riss. Dicke Wolken zogen am Himmel vorüber und schoben
sich von Zeit zu Zeit vor den vollen Mond, sodass für einige Momente
alles in Dunkelheit gehüllt war.
Als
die Wolken ihn nach einer Weile freigaben und sein Licht erneut die
Steine des Gemäuers berührte, erhob sich ein Schatten aus dem alten
Turmstumpf, welcher, ungeachtet des Sturms, zu dessen Spitze
hinaufschwebte, wo er reglos stehen blieb und hinunter auf die
erleuchtete Stadt blickte.
So
lange habe ich nun gewartet,
zischelte er in den Wind. Doch
nun ist er endlich gekommen … Endlich!
Die
gesamte Atmosphäre war plötzlich von Emotionen durchdrungen. Von
glühendem Hass, von grenzenloser Trauer und Leid. Ein Seufzen
erklang – dann ein bitterliches Weinen, das der Sturm gen Himmel
trug.
Doch
was am Ende blieb, war nur der Hass.
Das
Gesicht des Schattens verzog sich zu einem boshaften Grinsen, bevor
der Mond erneut von den Wolken verdeckt wurde und die einsame Gestalt
in Dunkelheit tauchte.
Bald
ist es so weit. Schon sehr bald …
***
Irgendetwas
wohnte diesem Ort inne, das Nico ein kaltes Kribbeln im Magen
verursachte. Auf irgendeine Art kam ihm all das hier äußerst
vertraut vor, so als sei er schon einmal hier gewesen. Eine
eigentümliche Trauer, die er sich in keiner Weise erklären konnte,
überkam ihn mit einem Mal. Sie legte sich um sein Herz und presste
es wie einen Schwamm zusammen.
Er
trat näher an die Überreste des Turmes heran und ließ seine
Fingerkuppen über den verwitterten, uralten Fels mit den trockenen
Grasbüscheln gleiten, während der Wind ohne Unterlass an Nicos
Jacke zerrte und ihm ins Gesicht blies. So andächtig die Stimmung
hier oben auch war – irgendetwas lauerte hinter dieser scheinbar
friedvollen Atmosphäre …
»Cool
hier, was?«, hörte er Flos Stimme hinter sich, die mit einem Mal
klang, als käme sie von weit, weit her. Als gehörte sie gar nicht
mehr zu Nicos Welt.
Und
von einem Moment auf den anderen war ihm, als trüge der Wind ihm ein
Flüstern zu, das ihn umschmeichelte und immer heftiger um seine
Aufmerksamkeit buhlte. Er schüttelte den Kopf und holte tief Luft,
doch das Wispern ließ sich kaum vertreiben.
Bedächtig
schritt er den Weg, der links um den Turm herumführte, entlang und
passierte das Bauwerk, zu welchem er immer wieder misstrauisch
aufblickte. Dabei machte er ein vereinzeltes kleines Fenster aus, das
ziemlich weit oben lag und ausschließlich durch ein paar Steigeisen
zu erreichen war.
Es
folgten mehrere ausgetretene Treppenstufen, die ihn zu einem kleinen
Platz führten, auf dem man eine Bank für Besucher aufgestellt hatte
und von dessen Mauern aus man einen atemberaubenden Ausblick auf die
Stadt Idar-Oberstein hatte.
Den
Blick starr auf das Metallgeländer gerichtet, das die Touristen vor
dem tödlichen Sturz in die Tiefe bewahrte, trat Nico an die
hüfthohen Mauerreste heran und blieb dort stehen. Mit den Händen
umklammerte er das kalte Metall und sah hinab auf die Stadt und die
Naheüberbauung mit den Autos, die von hier oben aus gesehen wie
Spielzeuge wirkten. Noch im selben Moment verspürte er ein
übermächtiges Verlangen, sich weiter vorzulehnen und in die Tiefe
zu schauen, die sich hinter den steil abfallenden Felsen auftat. Es
überkam ihn das Gefühl, der Wind würde nun noch stärker an ihm
reißen, und Nico wurde von Schwindel ergriffen.
Das
da vor ihm war tief. So entsetzlich tief …
Bevor
er sich jedoch von dem Abgrund abwenden konnte, schwoll das Wispern
im Wind zu einer ungeahnten Lautstärke an und raubte ihm den Atem.
Es fühlte sich an, als rissen unsichtbare Hände an seinen Armen,
als würde er jeden Moment den Boden unter den Füßen verlieren und
über das Geländer hinweggezogen. Vor seinem inneren Auge sah er
sich bereits in die Tiefe stürzen und auf den Felsen zerschmettern,
als völlig unvermittelt eine Stimme erklang, die nur ein einziges
Wort zischte: »Weyrich!«
Nico
sog scharf die Luft ein, als eine Hand ihn von hinten an der Schulter
packte ...
"Keltenblut"
Eine
bedrückende Dunkelheit umhüllte sie. Durch die rechteckige Öffnung,
die sich über ihr befand, konnte sie lediglich den Nachthimmel
sehen, der von Wolken verschleiert war und das Licht des Mondes und
der Sterne nur teilweise freigab.
Kjara
setzte sich auf und tastete an der nach Moder riechenden Wand
entlang, wobei sie erschrocken die Hand zurückzog, als ihre Finger
eine Wurzel streiften, die aus dem Erdreich herausragte. Ein weiteres
Mal blickte sie nach oben und bemerkte mit Schrecken, dass sie in
einem tiefen Loch lag. Mit zunehmender Angst und einem erdrückenden
Engegefühl stand sie auf und langte mit den Händen nach dem Rand
des Erdlochs, um sich daran hochzuziehen. Sie benötigte allerdings
mehrere Anläufe, bis sie es endlich geschafft hatte, die Grube zu
verlassen …
…
die allerdings keine einfache Grube war, sondern ein
frisch ausgehobenes Grab.
Kjara
stieß einen erstickten Schrei aus und wich ein paar Schritte zurück.
Wie kam sie hierher, und was hatte sie, verflucht noch mal, in diesem
modrigen Loch verloren?
Zitternd
drehte sie sich um und tastete mit dem Blick über ihre Umgebung,
welche zunächst nur schemenhaft zu erkennen war. Als jedoch der
Vollmond hinter einer der schweren Wolken hervorkam und das Land
beleuchtete, stellte sie fest, dass sie sich inmitten von zahllosen
verkohlten Trümmern befand.
Unsicher
stieg Kjara über einen Teil davon hinweg und blickte sich nach allen
Seiten um. Das Dorf – war es das aus ihrem Traum? – war völlig
zerstört, und jeder Zentimeter der Trümmerstücke und des Bodens
war von grauen Ascheflocken bedeckt. Alles erweckte den Anschein, als
wäre das komplette Dorf von einem gewaltigen Feuer verschlungen
worden.
Der
Boden zwischen den Überresten der Häuser war übersät von bis zur
Unkenntlichkeit verkohlten Leichen, und als dazu der Gestank nach
verbranntem Holz in ihre Nase stieg, lief Kjara los.
Ihr
Herz pochte wie wild, als sie nur wenige Meter weiter über eine der
Leichen stolperte und der Länge nach hinfiel – direkt vor das
schwarz verbrannte Gesicht eines Mannes, dessen Mund noch im Tode
weit aufgerissen war und aus dessen Körper ein Schwert herausragte.
Aus leeren Augenhöhlen schien er Kjara durchdringend anzustarren.
Wimmernd
kroch sie vor ihm zurück und schlug beide Hände vor den Mund.
Tränen brannten in ihren Augen, als ihr bewusst wurde, dass hier ein
wahres Massaker geschehen sein musste.
Hastig
sprang sie zurück auf die Beine und schaute sich mit wildem Blick
nach einem Fluchtweg um.
***
»Kjara«,
flüsterte Brico eindringlich. »Kjara, hör mir gut zu: Du musst
unbedingt von hier verschwinden. Für immer. Du und deine gesamte
Familie, ihr müsst von hier fort, und zwar so weit wie möglich!«
Mit
fragendem Blick sah Kjara ihn an. Er hatte sich beim Sprechen so nah
zu ihr hinübergebeugt, dass sie seinen Geruch wahrnehmen konnte. Er
duftete nach Herbstlaub und Erde – und das im Frühling!
»Wieso?«,
fragte sie leise. »Wieso sollen wir von hier verschwinden?«
»Weil
ihr hier in Gefahr seid!«, erwiderte Brico.
»Wieso?«,
wiederholte Kjara, nun allerdings etwas lauter. »Sag mir, wieso! Was
ist hier los? Warum ist es hier gefährlich?« Ihr wurde immer
mulmiger zumute, und ihr Herz pochte mittlerweile so laut, dass es im
ganzen Wald zu hören sein musste.
Doch
Brico sah sie nur traurig an. »Der Grund dafür soll dir verborgen
bleiben, denn es gibt Dinge, die man besser nicht aussprechen
sollte.« Mit einem Blick zum Himmel fügte er hinzu: »Kurz vor dem
nächsten Neumond schwebt ihr alle in großer Gefahr.«
Kjara
schnaubte empört. Sie konnte es nicht fassen, von einem Fremden, von
dem sie außer seinem Namen absolut nichts
wusste, derartig abgefertigt zu werden. Einfach so, ohne eine einzige
Erklärung. Mit einem Anflug von Zorn zischte sie: »Was soll das
Ganze eigentlich? Da kommst du zu mir, nimmst mich mit in den Wald,
erzählst mir was von wegen, dass wir alle in Gefahr sind – und ich
darf nicht mal den Grund dafür erfahren?! Ich weiß nicht einmal,
wer du bist. Nur, was
du bist! Und das kann ich immer noch nicht wirklich fassen.« Sie sah
ihm in die Augen, wobei ihre Stimme jedoch um einiges sanfter wurde.
»Weißt du, ich habe früher nie an Geister geglaubt, und plötzlich
rennt mir zufällig mal einer über den Weg und sagt mir, dass ich in
Gefahr bin … Wenn ich schon nicht erfahren darf, warum es hier für
mich gefährlich ist, dann möchte ich wenigstens wissen, wer
mir das sagt. Schließlich habe ich ein Anrecht darauf!«
Kjara
wandte den Blick nicht von Brico ab. Mit vor der Brust verschränkten
Armen wartete sie auf eine Antwort.
"Maylea - Seherin des Jenseits"
Und
da geschah plötzlich das Unfassbare – Maylea hätte noch eher mit
Micky Maus, Schneewittchen oder dem Kaiser von China als Trauergast
gerechnet als mit demjenigen, der außerdem noch zwischen den anderen
Leuten am Grab erschienen war und Victor tröstend seine Hand auf die
Schulter legte: Es
war Onkel Nikolas!
Doch
wie konnte das sein? Er
war doch der Tote, der in dem Sarg lag und soeben in die Erde
gelassen wurde!
Maylea
schloss die Augen, schüttelte energisch den Kopf und starrte erneut
auf die Stelle, wo sie soeben ihren Onkel gesehen hatte, der bei
seiner eigenen Beerdigung zusah. Doch die Halluzination hielt an, und
Maylea sog scharf den Atem ein, als Onkel Nikolas’
Blick den ihren traf und er ihr schweigend in die Augen schaute.
Ausgerechnet
ihr!
Und warum bemerkten Victor und die anderen ihn nicht?
***
Leander schob den Vorhang zur
Seite und ließ Maylea in den Bereich eintreten, der dahinter lag.
»Wow!«, entfuhr es ihr, als sie
den von Pechfackeln erleuchteten Grottensaal erblickte.
Jeder Zentimeter der glatt
geschliffenen Felswand war übersät von fremdartigen Symbolen, Runen
oder Hieroglyphen. Von der Decke herab hingen Ketten mit Amuletten in
unterschiedlichen Ausfertigungen und Größen. Sie waren
ausschließlich in Silber gefertigt, und in einige waren verschiedene
Edelsteine eingefasst.
Die Mitte der ansonsten leeren
Höhle wurde von einem wuchtigen Altar beherrscht, der bedeckt war
von einem reinen weißen Tuch. Beim Näherkommen stellte Maylea fest,
dass er nicht nur von dicken weißen Kerzen erleuchtet wurde, sondern
auch mehrere Silberamulette über dem Tuch verstreut lagen. Sie
erkannte einen Ankh, verschiedene Runen und ein Pentagramm.
»Dieser Ort ist unser Heiligtum«,
flüsterte Leander voller Andacht. »Hier werden wir uns in die
Sphäre vor dem Jenseits begeben, denn hier sind unsere Körper, die
wir im Diesseits zurücklassen, bestens geschützt.«
»Und wie … wie stelle ich es
an, dorthin zu kommen? Bist du dann auch immer in meiner Nähe?«
»Ja«, hauchte Leander, was sich
anhörte wie das Wispern der Toten damals auf dem Friedhof. »Wir
werden im Diesseits in Berührung bleiben, was uns garantiert, auf
der anderen Seite auch zusammen anzukommen … Nun komm zu mir!«
Die Stimme des Magiers wirkte so,
als wäre sie bereits in die Schattenwelt übergegangen. Maylea
schritt auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. Er legte eine Kette mit
einem silbernen Amulett um ihren Hals – es war der Ankh – und
verhüllte sie mit seinem Mantel, indem er die Arme um sie schloss.
Kaum hörbar wisperte Leander
Beschwörungsformeln, wobei er Maylea tief in die Augen blickte.
Nebel stieg um sie herum auf. Mayleas Atem stockte, ihr Herz geriet
aus dem Rhythmus.
»Keine Angst vor dem Nebel, er
ist nur der Übergang. Er bedeckt die Grenze zwischen unserer Welt
und dem Reich der Toten«, flüsterte Leander. Sein Gesicht war nur
noch wenige Zentimeter von Mayleas entfernt, sodass sie seinen Atem
auf ihrer Haut spürte. »Sieh mich an! Und konzentriere dich!«
Maylea nickte. Ihr wurde immer
kälter. Dicke Nebelschwaden schlossen sie ein, und sie glaubte, den
Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr Körper schien sich in
seine feinstofflichen Teilchen aufzulösen und selbst zu Nebel zu
kondensieren …
Alles ging ganz schnell.
Maylea hatte von einem Moment auf
den anderen wieder festen Boden unter den Füßen. Sie fühlte sich
auch wieder ganz, obwohl doch lediglich ihre Seele ins Totenreich
reisen konnte. Es war ein Gefühl gewesen, als hätte sie sich in
ihre Atome aufgelöst und sich nun wieder zusammengesetzt.
»Schau dich um«, raunte der
Magier ihr zu. »Und geh nicht so weit fort!«
Mit
diesen Worten gab er Maylea frei, welche sich staunend um die eigene
Achse drehte. Ihr war, als sei sie während einer feuchtkalten Nacht
in der Nähe eines Waldes unterwegs: Überall um sie herum waberte
dicker Nebel. Es herrschte eine Stille, die fast schon mit Händen zu
greifen war. Die Kälte war zwar erträglich, doch Maylea zitterte am
ganzen Leib. Sie fasste sich an die Brust und war erleichtert, dort
die Kette mit dem Symbol des Lebens vorzufinden.